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Veröffentlicht am 10.10.2023

Im Porträt: Yaşar Kaya | Seda Sönmeztürk: „Der Weg der Geschichte(n)“

Der Austausch zwischen Seda Sönmeztürk und Yaşar Kaya kann als Transfer zwischen den Generationen verstanden werden. Yaşar sammelt Geschichten, und Seda porträtiert den Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, das mündlich überliefte Erbe von über 400 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus der türkischen Region Dersim vertrauensvoll in Obhut zu nehmen.

Der Weg der Geschichte(n)
von Seda Sönmeztürk

Als Yaşar auf sie traf, gab es sie noch gar nicht. Eigentlich war er auf der Suche nach einem Helden, nach einem Helden für seine Geschichten, die er schreiben wollte. Als Autor oder auch als Filmemacher. Ein Held musste her! Er suchte sich seinen Onkel aus, denn genau so stellte er sich einen Helden vor: von starker Präsenz, Herr über den Dingen, jemand, dem man auswich, wenn man ihm auf der Straße begegnete.
Doch dann kam alles anders. Sein „Held“ wollte gar kein Held sein. Sein Held wollte gar nichts sein, als das was er war: ein ganz normaler Mensch! Uns so verschwand das Heldenepos aus Yaşars Leben, aber dafür trat etwas anderes ein: Er traf die Geschichten von ganz normalen Menschen. Diese normalen Menschen waren Überlebende des Dersimer Genozids von 1937/38. Aber ganz normale Menschen waren sie für ihn nie gewesen. Seine Interviewpartner*innen sind nicht nur Zeitzeugen, sie sind Geschichtenerzähler*innen aus einer anderen Zeit und an diesen Geschichten blieb er dran.



Oral History Projekt
2008 war ein wichtiges Jahr für die Geschichten, denn das „Dersim Oral History Projekt“ wurde ins Leben gerufen. Es wurden rund 400 Zeitzeugen aus 42 Städten in 7 verschiedenen Ländern (Türkei, Deutschland, Frankreich, Österreich, Schweiz, Niederlande, Norwegen und Türkei) persönlich befragt.

„Eine Studie dieses Ausmaßes, die über einen Zeitraum von 14 Jahren ohne jegliche wirtschaftliche Unterstützung, ohne institutionelle Förderung durch einen Staat oder ein Institut, ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte,“  so Yasar.

Unter anderem war es ein Wettlauf gegen die Zeit, da viele der Zeitzeugen schon ein hohes Alter erreicht hatten. Er selbst führte circa 40 Interviews. Geschichten über den Alltag dieser Menschen standen für Yasar immer im Vordergrund, fernab der Gewalterfahrungen, die diese Menschen machen mussten. Geschichten aus dem damaligen normalen Alltag. Dabei nutze er auch dieses Interesse, um in diese Interviews einzusteigen. Häufig fragte er sie ganz alltägliche Sachen: von Fragen wie ihre Hochzeit ausgestaltet war, wie das Hochzeitspaar sich kennengelernt hat bis hin zu Geburtsritualen, Lieblingsgeschwistern oder Familienstrukturen.

„Er hat mit dem Klomann gesprochen!“
Die Reaktionen seiner Interviewpartner*innen waren sehr unterschiedlich. Vor allem ein spezielles Interview erregte bei einigen Menschen großes Aufsehen und Amüsement. Yaşar sprach mit einem Herrn, der sich um die öffentliche Toilette in der Stadt kümmerte und für die Reinigung zuständig war. Man war amüsiert und auch verwundert darüber, was ein Klomann für wichtige Dinge zu erzählen hätte. Und so wurde seine Tätigkeit zu einem kleinen humoristischen Lauffeuer „Er hat mit dem Klomann gesprochen!“ erzählte man sich belustigt umher.

Ebenso erachteten viele Interviewpartner*innen die eigene Geschichte für wenig interessant und wenig erzählenswürdig. „Was kann das, was ich zu erzählen habe schon für eine Bedeutung haben?“ Waren häufige Reaktionen der Interviewpartner*innen.
„Dies änderte sich aber“, erzählt Yaşar:

„sobald ein Foto oder ein Film in der Öffentlichkeit gezeigt worden war, änderte sich auch ihre Sicht. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, als wir eine Abendveranstaltung in einer kleinen Stadt namens Lörrach an der Grenze zur Schweiz organisierten. Ich war dort Redner und fragte das Publikum, ob Zeitzeugen von Dersim 38 zugegen wären. Drei oder vier Leute meldeten sich. Bis zu dem Zeitpunkt saßen sie dort als Zuschauer, wie jeder andere auch. Ich bat Zuständige darum, einen Tisch nach vorne zu bringen, damit wir die Zeitzeugen dort hinsetzen können. Wir stellen Blumen hin und Getränke usw. Danach wollten alle im Publikum Fotos mit diesen Menschen machen. Sie drängelten sich quasi darum ein Foto mit ihnen machen zu können. Dies erstaunte die Zeitzeugen sehr, denn in ihrer Wahrnehmung waren sie nur als ganz normale Zuhörer gekommen und rechneten nicht mit so einem Interesse an ihrer Person. Und so ändert sich ihre Wahrnehmung in Bezug auf ihre eigenen Geschichten.

  1. Yaşar Kaya und seine Mutter Bese Kaya, Pınar / Dersim, Foto: Frank Nordhausen
  2. Zeitzeuge Mıstefaê Sılıci (Zweiter von links), Yaşar Kaya (links) Sılıcu /Dersim, April 2010, Foto: Archiv Dersim Kultur- und Geschichtszentrum
  3. Zeitzeuge Hemedê Seydê Baki & Yaşar Kaya / Askerege / Dersim, Juli 2010, Foto: Archiv Dersim Kultur- und Geschichtszentrum


  1. Zeitzeugen İbiş Yurttaş (links), Yaşar Kaya (Mitte), Davut Tekin (rechts), Kurnu / Dersim, April 2010 Foto: Archiv Dersim Kultur- und Geschichtszentrum
  2. Zeitzeuge Mehmet Ali Çavuş, der beim Völkermord als Soldat in Dersim war. Bodrum / Türkei, August 2011
  3. Zeitzeugin Sakine Kızıl und Yaşar Kaya, Krefeld / Deutschland, März 2016


„Menschen, die außerhalb der Norm liegen, interessieren mich sehr!“
„Menschen, die z.B. ihren Lebtag keine Stadt zu Gesicht bekommen haben, diese Menschen frage ich vor allem nach ihren Ansichten zum Leben. Diese Dinge interessieren mich sehr!“, sagt Yaşar.

„Ich habe sehr viel von ihnen gelernt“
„Die Art und Weise, wie sie das Leben betrachten, denn sie haben sehr viele Dinge und Erfahrungen in ihrem Leben gesammelt. Sie haben so eine große Lebenserfahrung; sie haben gelebt, ausprobiert und gesehen.“

Engagement im Dersim Kultur und Geschichtszentrum DKG und Umzug nach Bochum
Im Jahr 2006 wurde Yaşar Vorsitzender der Föderation der Dersim Gemeinden in Europa und leitete die Organisation. 2013 trat er als Präsident der Föderation zurück, leitet aber weiterhin das Oral History Projekt, das er zusammen mit dem Dersim Kultur und Geschichtszentrum durchführte. 2011 beriet er Dersimer Gemeinde in Bochum, bevor er 2014 nach seiner Heirat selbst nach Bochum zog. Yaşar war es wichtig einen Ort mitzugestalten, wo die Dersimer Kultur und Sprache im Vordergrund stehen. Ein Ort für Familien und vor allem Kinder, die die Möglichkeit bekommen früh in Kontakt mit anderen Kindern und Erwachsenen zu treten, die auch ihre Muttersprache sprechen. „Unsere Sprache“ wie Kırmancki auf Deutsch heißt.



Kooperation mit der Ruhr-Universität Bochum
Bezüglich einer Tagung zum Thema Dersim kam Yaşar mit dem Gewaltforscher Dr. Christian Gudehus, Dozent am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie, in Kontakt. Aus dieser Begegnung folgten vielerlei Dinge. Im Zuge eines Universitätsseminares zum Thema Dersim, fand eine Studienreise in die Region statt. Im Mai 2022 besuchten die Gruppe diverse Orte, die im Zusammenhang mit dem Genozid an den Dersimern und der Erinnerung daran stehen, redeten mit vielen Menschen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Aus dem Seminar ist ein Podcast mit dem Titel „Zwischen Ausgrenzung und Abgrenzung: Dersim 1937/38“ hervorgegangen.
Eine weitere Frucht der Zusammenarbeit ist eine Buchveröffentlichung, in der die Geschehnisse geschichtlich und rechtlich aufgearbeitet werden. Darin finden sich auch Beiträge zur Kultur Dersims, etwa zur Sprache, zum Alevitentum und zur Musik.

Das Kooperationsprojekt mit der Ruhr-Universität Bochum versucht gerade Forschungsgelder zur wissenschaftlichen Erschließung und Auswertung der Zeitzeugeninterviews anzuwerben. Und da ich selbst an der Anwerbung dieser Forschungsgelder beteiligt bin, sage ich ihm, dass ich denke, dass das Projekt gute Aussichten auf Förderung hat und ich zuversichtlich bin, dass es schon bald losgehen kann mit der wissenschaftlichen Erschließung. Yaşar denkt, dass dies Unglück bringt, zu aussichtsvoll darüber zu sprechen. Das bringt mich in Verlegenheit und ich nehme meine Worte mit großen Gebärden zurück, denn Unglück will ich der Sache, auch wenn es nur aus Versehen ist, nicht bringen. Wir lachen.  Vor einigen Wochen wurde nun klar, dass das Staatministerium für Kultur und Medien des Bundes ein Projekt zur wissenschaftlichen Erschließung und Auswertung der Zeitzeugeninterviews fördert.  Ich freue mich. Ich freue mich für die Geschichten. Ich freue mich für Yaşar und ich freue mich darüber, dass ich doch kein Unglück gebracht habe.

Ein Träger von Geschichten
Yaşar Kaya ist ein Träger. Ein Träger von Geschichten. Diesen Geschichten Gehör zu verschaffen ist sein starkes, inneres Anliegen. Die Geschichten befinden sich gerade auf 14 Festplatten. Die Geschichten werden bald ohne ihn auf Reisen gehen. Sie werden von Wissenschaftler*innen gehört, transkribiert, übersetzt und ausgewertet werden. Wohin es von da aus weitergeht, weiß keiner so genau. Für Yaşar Kaya bedeutet es seine Trägerschaft nach 30 Jahren abgelegen zu können.

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Text: Seda Sönmeztürk
Fotos: Miguel Angel Castillo
Archivfotos: Privatarchiv Yaşar Kaya / Archiv Dersim Kultur- und Geschichtszentrum

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