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Veröffentlicht am 28.08.2023

Im Porträt: Senol Güngör, im Gespräch mit Meri Pečenković

Während der Interkulturellen Woche Bochum 2022 bezog das Projekt Bochum – Stadt der Vielen für eine Woche den Projektraum „Tapetenwechsel“ in der Bochumer Innenstadt. Wir fragten einige Menschen, von denen wir wissen, dass sie in der Stadt gut vernetzt sind, ob sie mit einem Gesprächsformat unser Programm bereichern möchten. Die Kulturschaffende, Krankenschwester, Mutter uvm., Meri Pečenković, lud den Drehbuchautor, Regisseur, Familienvater und ehemaligen Industriearbeiter Senol Güngör auf unser goldfarbenes Sofa ein, um mit ihm vor dem anwesenden Publikum über seine Geschichte und seine künstlerische Arbeit zu sprechen.

Sören Meffert filmte das Gespräch (s. Videolink unten). Ergänzt wurde der folgende Text über ein Nachgespräch mit Patrick Ritter. Die weiteren Porträtfotos machte Ana Maria Sales Prado..

Sören Meffert filmte das Gespräch (Youtube-Link). Ergänzt wurde der Text durch ein Nachgespräch mit Patrick Ritter. Die weiteren Porträtfotos machte Ana Maria Sales Prado.

Senol Güngör lebt seit 1979 in Deutschland. Geboren ist er 1963 in Çorum, im türkischen Schwarzmeergebiet. Seit über 15 Jahren lebt er in Bochum-Wattenscheid, zuvor viele Jahre in Essen.

Senols Vater kommt 1964 als Gastarbeiter der ersten Generation nach Deutschland und beginnt, bei einer Essener Schraubenfabrik (Eisenwerk GmbH) zu arbeiten. Er lernt schnell Deutsch, engagiert sich im Betriebsrat und übersetzt für seine türkischen Kollegen im Betrieb. Zehn Jahre lang lebt er ohne seine Frau und seine Kinder in Deutschland und kommt nur im Sommerurlaub nachhause in die Türkei. Erst 1974 kommt Senols Mutter mit zwei Kindern (Senols jüngerem Bruder und seiner jüngeren Schwester) mit nach Deutschland – nach den vielen Jahren des getrennten Lebens müssen sie sich erst wieder aneinander annähern. 1978 bekommen Senols Eltern nochmal einen Sohn, ihr einziges Kind, das in Deutschland geboren wird. Die Familie lebt nun wieder vereint in Essen. Nur Senol bleibt 1974 als einziges Kind der Familie in der Türkei zurück, um dort weiter zur Schule zu gehen. Im Sommer 1975 besucht er das erste Mal die Eltern während der drei Monate langen türkischen Sommerferien. Anschließend kehrt er zurück in die Türkei und geht dort weiterhin zur Mittelschule und später zur Realschule.

Mit 17 Jahren besucht Senol erneut die Eltern in Deutschland. Eigentlich hat er ein Rückflugticket dabei, doch aufgrund der dortigen Unruhen und des Bürgerkriegs, der in seiner Heimatregion Çorum tobt und wegen des darauf folgenden Militärputsches 1980 bleibt er dauerhaft in Deutschland. Er beginnt, in derselben Firma wie sein Vater zu arbeiten. Er hätte durchaus Interesse gehabt, weiter zur Schule zu gehen. Jedoch muss er ein stetiges Einkommen nachweisen, um weiter in Deutschland bleiben zu können. Es folgen einige Jahre, in denen Senol bei verschiedenen Firmen in Essen und Bochum arbeitet. Wie zuvor schon sein Vater setzt sich auch Senol für Arbeitnehmerrechte ein. Als er Anfang der 1990er Jahre für drei Jahre beim Zulieferbetrieb (für Autositze) für Opel, Johnson Control, in Bochum arbeitet, beteiligt er sich bei der Gewerkschaftsgründung und wird in den Betriebsrat gewählt. Dadurch ist er der Geschäftsführung ein Dorn im Auge und wird nach einer längeren Auseinandersetzung schließlich über Umwege gekündigt. Manche Aspekte seines bewegten Arbeitslebens inspirieren später auch Teile der Geschichten, die er später als Drehbuchautor verfasst.

1998 macht Senol eine Umschulung zum Industrie-Elektroniker und schließt sie im Jahr 2000 als Geselle ab. Sein Beruf gefällt ihm gut; er bleibt für viele Jahre dabei und bleibt auch gewerkschaftlich engagiert. Allerdings erleidet er bei Bauarbeiten an der Ruhr-Uni Bochum einen Unfall. Durch die Folgen arbeitet er nur noch halbtags und nimmt 2020 einen Job als Hausmeister an.

Seit über 30 Jahren widmet Senol die Zeit, die ihm neben der Arbeit bleibt, der Kunst. Er schreibt, macht Filme und führt Regie in soziokulturellen Theaterprojekten. Er schrieb bereits hunderte Sketche und Drehbücher. Um genau zu sein: Drei Theaterstücke, 200 Sketche, 20 Kurzfilme und sogar sieben Skripte für Kinofilme. Die Anfänge: Seit vielen Jahren ist Senol bereits im Amateurtheater als Schauspieler und Drehbuchautor aktiv. Meist sind das türkische Amateurgruppen. Und er leitet für einige Projekte die Jugendtheatergruppe „Nar“ (dt. Granatapfel) des Bochumer Vereins DDIF e.V. an, in dem er Mitglied ist.

Seit 2018 beginnt er, auch Filmprojekte zu machen. 2023 schließt er eine Weiterbildung als Theaterpädagoge ab und widmet seine ganze Zeit der künstlerischen Arbeit. Im selben Jahr wird er auch in die Künstlersozialkasse aufgenommen. Im Alter von 60 Jahren beginnt für ihn also nochmal eine ganz neue Phase. Oft geht es in seinen Arbeiten um sozialkritische Themen – wie Rassismus, den er im Alltag auch schon selbst im Laufe seines Lebens häufiger erlebt hat (Vgl. Video-Interview), Vorurteile, Krieg, Integration und Generationenkonflikte – um für gegenseitiges Verständnis, für Austausch und Freundschaft zu werben.

   

Sein größter Erfolg bisher: Mit dem Kurzfilm „Solingen 1993 – 25 Jahre danach“ gewinnt Senol Güngör als Autor und Produzent gemeinsam mit Regisseur Ömer Pekyürek (37, Duisburg) den „Deutschen Generationen Filmpreis 2019“. Die reale Geschichte hinter dem Film: 1983 bekommt Senols Frau ihre erste Tochter. Sie wird nach Senols kurz zuvor verstorbenen Großmutter „Güside“ (dt. Bedeutung: einzigartig) benannt. Güsides Großeltern gestatten ihr alles, was sie möchte und es entwickelt sich ein inniges Verhältnis. 1993, als das Mädchen zehn Jahre alt ist, passiert der Anschlag in Solingen. Bei einem Besuch der Großeltern möchte die Tochter zu Senols Verwunderung nicht ins Haus steigen. Auf Senols Nachfrage, warum sie das nicht möchte, antwortet sie, hier würden nur Türken leben und türkische Häuser würden verbrannt. Senol lässt die Szene nicht mehr los und er schreibt auf dessen Basis das Skript für einen Kinofilm. Mangels eines größeren Budgets wird am Ende nur ein Kurzfilm gedreht. Etliche ehrenamtliche Stunden von vielen Menschen fließen in das Projekt mit ein. Das größtenteils mit Laienschauspielern besetzte Projekt wurde unterstützt von den Kulturbüros Gelsenkirchen, Duisburg, Bochum, Solingen, der AWO Wattenscheid, vom Verein DDIF e.V.. Auch die IFAK unterstützte das Projekt und stellt Räumlichkeiten für den Dreh in der Alleestraße zur Verfügung.



Die Verleihung des Filmpreises hilft dabei, dass der Film an einigen Schulen, in sozialen Einrichtungen und bei Gedenkveranstaltungen gezeigt wird. Im Anschluss wird häufig über die Erinnerungskultur in Deutschland an den Anschlag von Solingen, sowie ähnliche grausame Ereignisse gesprochen. Mit diesem ‚kleinen‘ Projekt erreicht er also zahlreiche Menschen in Bochum, Essen, Solingen, Hattingen und darüber hinaus.

Pläne für die Zukunft? Mit mehr verfügbarer Zeit macht er nun die Kunst ganz zum Beruf. Er dreht aktuell in Essen Kurzfilme mit Hauptschüler*innen, und im Essener Unperfekthaus gestaltet er Ende 2023 eine abendfüllende Show mit vielen beteiligten Künstler*innen. Der Dreh seines aktuellen Kinofilms Hayde bitteschön, eine Komödie über Vorurteile findet in Deutschland, in der Türkei und eventuell noch für drei Tage in Griechenland statt. Das ist natürlich kostspieliger als die bisherigen Projekte – weitere Quellen für Fördermittel und Sponsoren sind ihm also immer willkommen! Senol ist also noch weit entfernt von einem gemütlichen Rentnerdasein.

Youtube-Link zum Interview: https://youtu.be/2J8kdq57lVI

„Solingen 1993, 25 Jahre danach“ (Trailer), Link: https://www.youtube.com/watch?v=GDjJlxfodDY

 

Mersiha Pečenković
wurde 1977 in Bihac (Bosnien und Herzegowina ) geboren. 1992 musste sie während des Krieges flüchten und lebt nun in Bochum. Seit vielen Jahren engagiert sie sich als erste Vorsitzende im Verein WorldBeatClub. Tanzen und Helfen, der sich für kulturelle Begegnungen, eine bunte Gesellschaft und gegen Rassismus einsetzt und auch humanitäre Projekte unterstützt.


Mitwirkende:
Interview: Mersiha Pečenković, Text und weiteres Interview: Patrick Ritter, Bilder: Ana Maria Sales Prado, Video: Sören Meffert

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