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Veröffentlicht am 03.10.2023

Im Porträt: Gülten Tanrıverdi | „Wenn Eltern persönlich und sprachlich gestärkt sind, können die Kinder auch gestärkt werden!“

Eine unserer Teamkolleg:innen, Melisa Turan, lernten wir bei unserem Besuch eines sozialwissenchaftlichen Seminars als Studentin der Ruhr-Universität Bochum kennen. Durch ihr persönliches und akademisches Interesse an Migrations- und Emanzipationsthemen, entwickelte sich eine Zusammenarbeit in unserem Projekt. Melisa interviewte zwei Menschen zu ihrer Biografie und ihren Lebenserfahrungen, die sie im Laufe der Jahre in Bochum und in der näheren Umgebung machten. Dankenswerterweise waren sie bereit, diese mit uns zu teilen.

Im Porträt: Gülten Tanrıverdi | „Wenn Eltern persönlich und sprachlich gestärkt sind, können die Kinder auch gestärkt werden!“
von Melisa Turan

Gülten Tanrıverdis Familiengeschichte reicht von der zentraltürkischen Stadt Kayseri, wo sie 1962 geboren wird, über Adana nahe der türkischen Mittelmeerküste nach Bochum. Sie ist die Tochter einer kurdisch-alevitischen Familie und lebt bis zum Ende ihres 16. Lebensjahrs in der Türkei. Zum Ende des Jahres 1978 kommt Gülten Tanrıverdi nach ihrem Abitur als Kind eines Gastarbeiters nach Bochum. Gleich am nächsten Morgen nach ihrer Ankunft, fährt sie gemeinsam mit ihrem Vater zur Anmeldung eines privaten Deutschkurses. Gülten strebt ein Studium an. Nach den abgeschlossenen Sprachkursen fängt sie baldmöglichst ihr Biologiestudium an. Sie lebt mit ihrem Vater in Bochum. Nach einigen Jahren kehrt ihr Vater zurück in die Türkei und sie zieht alleine ins Studierendenwohnheim am Uni-Center und Gültens selbstständiges Leben alleine in Bochum beginnt. Es entstehen verschiedene Freundschaften und sie begegnet verschiedenen Menschen, die positive, aber auch tragische Geschichten mit sich bringen.

„Wenn ich damals gesagt habe: ‚Mein Vater arbeitet bei Krupp und ich bin Arbeitnehmerkind‘, haben das die Leute an der Universität positiv bewertet und bewundert, dass ich es geschafft habe, so weit zu kommen.“


Darüber hinaus wächst ihr Interesse, Menschen zu helfen immer mehr und sie fängt an, ihren Mitmenschen als Dolmetscherin oder als Begleitung bei verschiedenen Terminen und Behördengängen zu helfen. Während ihres Studiums beginnt sie, beim damaligen „Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFL)“, dem heutigen „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“ (BAMF), zu arbeiten. Sie ist dort als kurdisch sprechende Dolmetscherin aktiv.
     
In Bochum fühlt sie sich heimisch und wohl. Ihr Ehemann, den sie 10 Jahre zuvor im Studienkolleg kennengelernt hat, begegnet ihr nach 10 Jahren wieder und sie verlieben sich und heiraten. Gemeinsam bekommen sie zwei Töchter, die nun bereits erwachsen sind und ihren Weg gehen. Nachdem sie ihr Biologiestudium abgeschlossen hat, arbeitet Gülten als emanzipierte, studierte Frau weiterhin als Dolmetscherin und fängt später als Dozentin für „Deutsch als Fremdsprache“ an, Sprach- und „Integrationskurse“ zu geben.

Im Interview geht sie auf die strukturellen Probleme der Deutschkurse ein, die sie erlebt hat. In ihren Kursen sind Menschen mit ganz unterschiedlichen Lernerfahrungen und Bildungshintergründen in einer Gruppe. Sie plädiert dafür, die Teilnehmer:innen nach dem Bildungsgrad in verschiedene Gruppen zu trennen, um einen größeren Mehrwert für alle zu erreichen. Mehr Sprachkurse anzubieten und die Zugänge zu erleichtern, ist für sie der wichtigste Schlüssel zur Erleichterung der Partizipation. Gülten ist der Meinung, dass vor allem Mütter persönlich und sprachlich gestärkt werden müssten, damit so auch ihre Kinder gestärkt werden.

Im Verlauf des Interviews spricht sie auch über Diskriminierungserfahrungen und negative gesellschaftliche Stimmungen, die sie als Person mit Migrationshintergrund – weniger bei sich selbst – aber viel in ihrem Umfeld über die vielen Jahre in Deutschland mitbekam, auch unter verschiedenen migrantischen Communities. Als Gülten mit ihren Töchtern über Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierungserfahrung spricht, ist sie über die Erfahrungen der Töchter überrascht. Sie bemerkt, dass ihre Töchter auch heute Erfahrung mit Rassismus und Diskriminierung in Deutschland machen und in der jüngeren Generation solche Themen direkter besprochen werden.

Gülten erzählt, dass sie und ihr Mann bewusst ihren Töchtern zwei Namen gegeben haben.
Ein Name klingt internationaler und „westlicher“ und der andere kulturspezifischer, sodass die Töchter entscheiden können, welchen Namen sie verwenden wollen. Mit der doppelten Namensgebung wollen sie ihren Töchtern Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen ersparen und sie so auch auf institutioneller Ebene schützen. Trotzdem haben sie bei der Eintragung beim Amt einige Probleme mit der Anerkennung der Schreibweise, sodass der Name jetzt eigentlich falsch eingetragen ist.

Ich finde an Gültens Geschichte besonders spannend, dass sie deutlich macht, wie die Migrationsgeschichte mit der Generationenfrage verknüpft ist. Dies findet zum Beispiel in ihren Ängsten und Befürchtungen über die Doppelnamen und die Diskriminierungserfahrung ihrer Töchter Ausdruck. Die Migrationsgeschichte betrifft nicht nur die migrierte Person, sondern hat nachhaltige, tiefgreifende und intergenerationale Konsequenzen für den Rest der Familie. Das betrifft meine Geschichte ebenfalls und ich bin froh über die Gelegenheit dieses Austauschs.

Youtube-Link: https://youtu.be/7zh3W3251ng?si=n45POlvDKORRaMC-

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Interview und Text: Melisa Turan
Video: Sören Meffert

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